Auktion 278 : Kunst des 19. und 21. Jahrhunderts Teil 1 16.06.2023

MARC CHAGALL Witebsk 1887–1985 Saint-Paul-de-Vence 17 Le chevalier (875000.–) Öl auf Leinwand. 92×73 cm 1971–1974 Unten rechts mit dem Nachlassstempel «Marc /Chagall» Werkverzeichnis: Echtheitsbestätigung (Nr. 2023284) des Comité Marc Chagall, Paris, datiert vom 28. April 2023, liegt vor Provenienz: Nachlass des Künstlers; Slg. Osaka Maeda Seika, Japan (ca. 1985) Auktion Christie’s, New York, 12. November 2019, Los 350, dort erworben für Privatsammlung Israel Ausstellung: Utsunomiya/Mie Tsu/Chiba 2007, Museum of Art/Prefectural Art Museum/City Museum of Art, Marc Chagall and Jewish Mysticism, Kat. Nr. 40, reprod. Auf dem originalen Chassis, die Leinwand gefirnisst. Farbfrisch und in sehr guter Gesamterhaltung Eigene und kollektive Erinnerungen sind in den Werken Marc Chagalls häufig präsent. Hier ein Reiter auf dem Platz einer Stadt, die klar als Chagalls Heimatstadt Witebsk zu lesen ist. Charakteristisch ist die Kuppel der orthodoxen Kirche oder Synagoge im Hintergrund, umgeben von Häusern, links ein Bewohner vor seinem Haus. Ob der Reiter ankommt oder abreist, bleibt offen; beides macht Sinn im Kosmos des Künstlers, entsprechen doch beide Bewegungen menschlich reellen sowie historisch und politisch bereichernden Erfahrungen. Meist geht es Chagall darum, die Gleichzeitigkeit verschie- dener Handlungsstränge und Narrationen festzuhalten. Vorne rechts vor dem Volk mit roter Fahne wohl seine Frau mit Kind. Die Sonne geht auf oder unter und kann ebenfalls für Abschied und Rückkehr zugleich stehen Die Darstellung ist metaphorisch sicherlich für die Fluchten des jüdischen Volkes in alter Zeit, die Diaspora über viele Jahrhunderte und schliesslich die Emigrationen im Dritten Reich zu verstehen – alles gespiegelt an Chagalls eigener Biographie. Es ist das Bild des wandernden Juden, das sich motivisch durch viele Werke des Meisters zieht. Die in einer eindrücklichen, wunderbar subtilen Farbpalette in Blau und verschiedenen Akzenten gehaltene Komposition zeugt auch von kontinuierlicher zeichnerischer Erneu- erung und Kraftschöpfung. Das Volk im Hintergrund trägt eine rote Flagge, hier verweist der Künstler entweder auf die Historie aus seinen jungen Jahren während der Russi- schen Revolution, durch die die Jüdische Kultur Hoffnung schöpfte, oder auf die Meta- pher der Rückkehr in die Sowjetunion, die er 1973 nach fünf Jahrzehnten Abwesenheit wieder besucht hat. In Witebsk war er jedoch nicht, Chagall soll gesagt haben: «Es gibt Erinnerungen, die man nicht stören sollte. […] Das, was eines der lebendigen Elemente in meinen Bildern ist, würde sich als nicht existent erweisen». Und so leben seine Gemälde von einer Verflechtung von Erinnerungen und erlebten Geschichten, in denen die alte und die neue Zeit und deren Räume vielschichtig verbunden sind Ein eindrückliches Grossformat, das uns dank der spannenden, tiefgründigen und mehrfächerigen Lesbarkeit mit vielen Ebenen den Zeitenlauf neu hinterfragen lässt *

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