Groot Zundert 1853 - 1890 Auvers-sur-Oise
15. Juni 1890
Radierung, in schwarzer Kohle auf und oberhalb der rechten Schulter überarbeitet
17,8x14,5 cm, Plattenkante – 31x23,5 cm, Blattgrösse
Unten rechts im Rand annotiert in schwarzer Kreide «Inédit 1er Etat» und in brauner Tinte «Eau forte de Vangogh»
Rückseitig in Tinte von der Hand Paul Gachets oben beschriftet: L’Homme à la Pipe (Dr. Gachet) / Eau forte / unique de Vincent van Gogh / Auvers, 25 Mai 1890 – Unten: Le soussigné Gachet Paul certifie que cette épreuve est une de celles tirée à Auvers par le Dr. et Vincent au moment de la gravure de la planche. Paul Gachet
Sjraar van Heugten/Fieke Pabst, The Graphic Work of Vincent van Gogh, Zwolle 1995, Nr. 10.13, dort dieses Exemplar ganzseitig reprod. auf pag. 80
Jacob-Baart de la Faille, The Works of Vincent van Gogh, His Paintings and Drawings, Amsterdam 1970,
Slg. Dr. Paul Gachet Senior, recto mit seinen Stempeln, Lugt 1219a und 2807c, auf der Plattenkante
Slg. Ms. Romano, New York (bis 1982)
Slg. David Tunick, New York (bis 1983)
Slg. Samuel Josefowitz
Privatsammlung Schweiz
Tokyo/Nagoya 1985-1986, The National Museum of Western Art/City Museum, Vincent van Gogh,
New York 1986-1987, The Metropolitan Museum of Art, Vincent van Gogh,
Tadellos in der Druckqualität, auf altem Bütten mit dem Wasserzeichen "Ed & Cie", sauber in der Erhaltung, mit mindestens 4 cm Papierrand um die Plattenkante. Wenige Verfärbungen und leichter Lichtrand
Einer der 14 im Werkverzeichnis aufgeführten Frühdrucke, die nach der Entstehung der Platte am 15. Juni 1890 noch zu Lebzeiten Vincent van Goghs in Zusammenarbeit mit Paul Gachet Senior abgezogen wurden
Die Platte blieb im Besitz der Familie Gachet und ging nach dem Tode von Paul Gachet Senior 1909 in den Besitz von Paul Gachet Junior über, der sie 1951 dem Louvre vermachte. Es gibt spätere Drucke, häufig auf dünnem Japan. Im Werkverzeichnis sind gesamthaft 61 bekannt gewordene Drucke verzeichnet
Die Datierung wirft Fragen auf. In der Platte angebracht und bei ersten Drucken bereits vorhanden, steht «15 Mai 90». Die Datierung stammt sicherlich von der Hand Gachets. Genaue Abklärungen führten zum Ergebnis, dass die Platte am 15. Juni 1890 entstanden ist, dass sich aber van Gogh und Gachet erstmals am 25. Mai, am Pfingstsonntag, in Auvers-sur-Oise zum Mittagessen getroffen haben, wohin sich Vincent van Gogh, auf Empfehlung seines Bruders Theo van Gogh, zur ärztlichen Behandlung zum dort lebenden Arzt Dr. Paul Gachet, der durch seine naturärztliche Praxis bekannt war, begeben hatte
Vincent van Gogh liess sich in der Pension Ravoux nieder, hielt aber durch mehrere Besuche Kontakt zu Gachet, der auch unter dem Pseudonym «van Ryssel» künstlerisch tätig war, Radierungen schuf und eine eigene Druckpresse im Hause hatte
Dr. Paul Gachet galt in Paris als Arzt seiner Zeit voraus. Er war Homöopath und suchte Linderung und Heilung durch den Einsatz von Heilpflanzen. Geboren wurde er 1828 in Lille, er promovierte 1858 und eröffnete 1859 eine Praxis in Paris. Schon in Paris verkehrten in seiner Praxis u.a. Cezanne, Pissarro, Manet, Degas, Renoir, Monet, kurzum die Elite der damaligen Malerwelt. 1870/1871 wurde er als Militärarzt eingesetzt. 1872 kaufte er sich in Auvers-sur-Oise ein Haus, 1873 wurde sein Sohn Paul Louis Lucien geboren. Das Haus in Auvers liess Gachet Raum, seinen künstlerischen Neigungen nachzugehen. Er richtete sich ein Atelier ein, kaufte eine Druckpresse und begann unter dem Pseudonym Paul von Ryssel (mit Monogramm „PvR“) zu radieren. Sein erstes graphisches Blatt stammt aus dem Jahre 1872
Wenig später kam Cezanne mit seiner Familie nach Auvers und mietete ganz in der Nähe von Gachet ein Haus. Gachet führte Cezanne in die Technik des Radierens ein, es entstanden 5 Arbeiten. 1873 kam auch Pissarro in die Nähe und nahm im Atelier von Gachet seine seit 1863 unterbrochene Tätigkeit als Radierer wieder auf
Theo van Gogh, der Bruder von Vincent, war Geschäftsführer der Kunsthandlung Boussod, Valadon et Cie in Paris und unterstütze seinen Bruder finanziell. Er war mit Gachet und seinem Wirken bekannt und riet Vincent nach seinen Aufenthalten in der Klinik Saint-Rémy in Arles sich der Pflege Gachets anzuvertrauen. Mitte Mai 1890 wurde Vincent van Gogh in Arles entlassen, am 17. Mai traf er in Paris ein, wohnte bei seinem Bruder und lernte dort den kurz zuvor geborenen Neffen Vincent Willem kennen. Am 21. Mai reiste Vincent nach Auvers und mietete sich im Gasthaus der Familie Ravoux, Place de la Mairie, ein einfaches Zimmer. Er nahm Kontakt mit Gachet auf, für den 25. Mai, Pfingstsonntag, ist ein erstes Mittagessen belegt. Er schreibt seinem Bruder „Ich habe Dr. Gachet besucht, er hat mir einen ziemlich exzentrischen Eindruck gemacht, aber seine Erfahrung als Arzt muss ihn ja schliesslich im Gleichgewicht halten bei der Behandlung des Nervenübels… Der Eindruck, den er mir gemacht hat, ist nicht ungünstig. … und ich glaube wohl, dass ich gut Freund mit ihm bleiben und ein Portrait machen werde“
Vincent van Gogh hat während seines Aufenthalts in Auvers sehr intensiv und produktiv gearbeitet. Neben zahlreichen Landschaften entstanden auch 2 Portraits von Dr. Gachet in Öl. Sie sind sich ähnlich, in beiden Werken figuriert die Digitalis als Heilpflanze (de la Faille 753 und 754)
Am 17. Juni findet sich in einem Brief an Theo die Stelle «Ich möchte gerne einige Radierungen nach Motiven aus dem Süden machen, sagen wir mal sechs, denn ich kann sie kostenlos bei Herrn Gachet drucken, er will sie gerne umsonst für mich abziehen. Das muss ich unbedingt machen.»
Aus diesen Plänen ist nichts geworden, aber am 15. Juni drückt Gachet van Gogh eine fertig präparierte Platte in die Hand und der hält darauf ein Portrait Gachets fest, das sich sehr frei an die beiden Ölbilder anlehnt. Aus welchen Gründen Gachet das falsche Datum «15. Mai» eingraviert hat, ist nicht zu eruieren. Es ist effektiv der 15. Juni. Ein Abzug der ersten Druckperiode, wohl am gleichen Tag der Ätzung der Platte oder wenig später, in der van Gogh und Gachet zusammen arbeiten, und von denen im Werkverzeichnis 14 Exemplare nachgewiesen sind, geht Ende Juni an Theo, und der schreibt zurück: «Und nun muss ich dir etwas über deine Radierung sagen. Es ist eine richtige Maler-Radierung. Keinerlei Verfeinerung in der Technik, sondern eine Zeichnung auf Metall. Diese Zeichnung gefällt mir sehr gut – auch Boch gefiel sie. Komisch, dass Dr. Gachet so eine Presse hat. Die Maler jammern ja immer, dass Sie mit ihren Problemen zum Drucker müssen…»
Mitte Juli kühlte sich das gute Einvernehmen zwischen van Gogh und Gachet offensichtlich etwas ab, man traf sich nicht mehr regelmässig. Und so bemerkte Gachet den neuen melancholischen Schub beim Künstler nicht. Über die Ursachen wird gerätselt. Eine Rolle spielte vielleicht, dass Theo bei einem Besuch in Auvers am 30. Juni von Plänen sprach, seine feste Stellung bei Boussod et Valadon aufzugeben und sich als Privathändler zu etablieren, was für Vincent wohl das Ausbleiben der monatlichen Zahlungen durch den Bruder bedeutet hätte. Am 27. Juli, an einem Sonntag, ging Vincent nicht nur mit seinem Malzeug, sondern auch mit einem Revolver aus dem Hause Ravoux. Am Abend, auf einem Feldweg hinter dem kleinen Schloss von Auvers, schoss er sich eine Kugel in den Leib. Er fiel in Ohnmacht, wachte aber wenig später auf und stellte fest, dass er bewegungsfähig war. Er wankte zurück in die Pension. Ravoux war tief erschreckt, legte den Verwundeten in ein Bett und versuchte den Dorfarzt Mazeny zu erreichen. Der war am Sonntag nicht in seinem Haus. Erst dann griff man auf Gachet zurück
In der Nacht wachten Ravoux und Gachet, am Morgen schickte man nach Theo, der sich mit Vincent während Stunden unterhielt. Wieso man nicht eine sofortige Einlieferung in eine Klinik veranlasste, bleibt bis heute ein Rätsel
In der folgenden Nacht trat eine rasch wirkende Sepsis auf, und Vincent van Gogh starb in den ersten Stunden des 29. Juli. Gachet zeichnete noch während des Tages den Aufgebahrten. Am 30. Juli wurde Vincent van Gogh in Auvers zu Grabe getragen, wenige im späten Juli in Paris gebliebene Freunde kamen nach Auvers, darunter der Sohn Pissarros und der Maler Charles Laval. Wohl noch am Tage der Beerdigung übersetzte Gachet seine Zeichnung des toten van Goghs in eine Radierung. Sie zeigt lediglich den Kopf des Toten, nach links gewandt